SAC Sektion Zermatt
Die Startnummer habe ich, wie verlangt, an meinem linken Oberschenkel befestigt. Bei der Ausgabe wünscht mir die freundliche Dame noch viel Spass. Der Spass ist im jetzigen Moment jedoch vielmehr der Hektik und Nervosität gewichen. Bereits jetzt bereue ich die Anmeldung und schwöre mir, dass es das letzte Mal war. Im Startgelände bereiten sich die zahlreichen Läufer auf den Startschuss vor. Noch 2 Minuten. Ob die anderen Läufer wohl ähnlich fühlen wie ich? Noch 1 Minute. Meine Taktik und all die Vorsätze, welche ich mir am Mittag zurecht gelegt habe, sind mir entfallen. 3–2–1 los geht’s.
Die ersten 500 Meter bis zum Ski-Anschnallplatz laufen wir zu Fuss. In den engen Zermatter Gassen widerhallt der Ton von 40 paar Tourenschuhen und von manch einem Passanten werden wir nur ungläubig bestaunt. Kurz nach dem Ortsausgang können wir endlich die Skier montieren. Immer noch herrscht die gleiche Hektik und Nervosität wie am Start. Während ich verzweifelt versuche meine Skier, Stöcke und Rucksack zu „ordnen" sehe ich die Spitzenläufer schon 300 Meter vor mir. Wie machen die das bloss?
Jetzt bin ich seit 15 Minuten unterwegs. Mein Magen rebelliert. Wahrscheinlich bin ich zu schnell gestartet. Nein, ganz sicher bin ich zu schnell gestartet, obwohl ich mir etwas anderes vorgenommen habe. Auf Sunnegga werde ich einfach aufgeben und wieder herunterfahren.
Die Nacht kommt, vom majestätischen Matterhorn sieht man nur noch die Umrisse am Horizont. Eine kurze Pause, um die Stirnlampe zu montieren, und weiter geht’s. Irgendwie habe ich vergessen, auf Sunnegga aufzugeben. Ist ja auch egal, dass kann ich auf Blauherd auch noch machen. Unendlich scheint sich die Strecke hinzuziehen, und die Hälfte ist immer noch nicht erreicht. Es wäre besser gewesen mich nur für die kurze Strecke von Sunnegga aufs Rothorn anzumelden, dann wäre ich jetzt fast im Ziel. Aber auf Blauherd ist für mich endgültig Schluss.
Wie habe ich mich bloss dazu überreden können, doch noch weiter zu laufen? Wahrscheinlich war es der warme Verpflegungstee von Josefine auf Blauherd, welcher meine Reserven und meinen inneren Schweinehund noch einmal mobilisieren konnten. Auf dem langen Flachstück vor dem mühsamen Aufstieg habe ich Zeit mich ein wenig zu erholen. Seit längerem habe ich keinen Menschen mehr gesehen. Ob ich wohl noch auf dem richtigen Weg bin? Beruhigt stelle ich kurz später fest, dass weiter oben und weiter unten die Lichter einiger Stirnlampen zu sehen sind. Natürlich könnte das auch der Bozen von der Fluhalp sein? Um mich jedoch zu fürchten, habe ich viel zu wenig Kraft. Nach dem steilen Aufstieg stehe ich nun im Furggji, noch 120 Höhenmeter. Meine Oberschenkel brennen wie Feuer. Ich könnte doch einfach rechts abbiegen und Richtung Kumme nach Zermatt fahren, dann wäre ich in spätestens 30 Minuten im Bett.
Hinter mir höre ich plötzlich zwei weitere Leidensgenossen. Auch ihnen scheint es nicht besser zu gehen. Zu dritt entschliessen wir uns dann doch noch, diese letzten Meter zu meistern. Zudem hat uns soeben eine Frau überholt. Wir waren uns einig, dass wir das nicht zulassen durften und geisselten einander dem Ziel entgegen.
Als wir aus der dunklen Nacht über die letzte Kuppe stiegen, standen wir plötzlich in einem gleissenden Licht in welchem Kegel wir einige Personen erkennen konnten. Genauso habe ich mir immer das Himmelstor vorgestellt. Doch anstelle des Himmeltors handelte es sich um den Scheinwerfer des Zielgeländes. Die Personen waren übrigens keine Engel sondern die anfeuernden Helfer im Ziel. Diese wohlklingenden Stimmen trieben uns schliesslich dem Ziel entgegen. Geschafft. Ein noch nie dagewesenes Glücksgefühl überkommt mich. Der warme Tee hinter der Zeitmessung tut sein übriges. Der Stolz über seine eigene Leistung ist im Moment wichtiger als die gelaufene Zeit.
Das durchschwitzte T-Shirt ist gewechselt und man fühlt sich allmählich wieder als Mensch. Das Fachsimpeln mit den Leidensgenossen im gemütlichen Bergrestaurant Rothorn, lässt mich die Strapazen schnell vergessen. Alleine diese kameradschaftliche Atmosphäre war es wert, sich diesen Stress anzutun.
Vor der nächtlichen Rückfahrt habe ich eigentlich keine Angst. Schlimmer als beim Aufstieg kann es nicht mehr werden. Jetzt erinnere ich mich wieder an die Worte der Dame bei der Startnummerausgabe: «Viel Spass!» Diesen hatte ich wirklich. Eines steht jedenfalls fest: Das nächste Jahr werde ich wieder teilnehmen.
Übrigens: Die Frau kurz vor dem Ziel haben wir nicht mehr eingeholt.